Leben in Bayern

Der lebendig gewordene Drache konfrontiert den Jungen (Joel Simming), dem er gehört, mit dessen Verrat an ihm. (Foto: Pat Christ)

03.05.2024

Mobbing: Das sind nicht immer nur die anderen

Ein inklusives Theater in Würzburg zeigt Kindern, wie sie damit umgehen können, wenn sie ausgegrenzt oder schikaniert werden

Hätten sie ihn gefragt, vielleicht hätte er ihnen sein Kuscheltier gegeben. Zumindest kurz. Vielleicht auch nicht. Denn der Junge liebt sein Stofftier, eine Drachin namens Alma, über alles. Doch müßig, darüber nachzudenken. Im Tanzstück Ärgern ist doof! des inklusiven „Theaters Augenblick“ zum Thema Mobbing, das noch bis 4. Mai im Würzburger Kulturspeicher zu sehen ist, fragen die Kinder nicht lange. Sie nehmen dem Jungen den Drachen einfach weg.

Mobbing ist ein Thema, das heutzutage mehr oder weniger alle Kinder betrifft. Direkt. Oder indirekt. Und zwar sowohl Kinder mit als auch ohne Handicap. Wie brisant die Problematik ist, war vier Tage, bevor Ärgern ist doof! Premiere feierte, im Bundestag zu hören. Laut Bundesregierung sind hierzulande 21 Prozent aller 15-jährigen Schüler*innen von Mobbing betroffen. Die Zahlen basieren auf der aktuellen Pisa-Studie. Mobbing war 2023 außerdem in über 4500 Fällen Thema bei Beratungen des Kinder- und Jugendhilfetelefons „Nummer gegen Kummer“. Mehr als jeder 20. Anrufende klagte darüber.

Plötzlich wird das Opfer zum Täter

Doch durch welches Verhalten oder durch welche Äußerungen zieht man sich eigentlich das Missfallen der anderen zu? Immer wieder stellt sich heraus: Meist ist es das schlichte Anderssein. Es sagt sich ja so leicht: Vielfalt leben. Tolerant sein. Andere Meinungen wertschätzen. Andere so, wie sie sind, respektieren. Im Alltag wird das Gegenteil erfahrbar. Schon wer auch nur ein bisschen anders ist, läuft nicht nur Gefahr, missverstanden zu werden. Ausgrenzung droht.

Im Tanzstück Ärgern ist doof! geschieht die Mobbingattacke aus heiterem Himmel ebenfalls allein deshalb, weil der Junge mit dem Drachen so anders ist. So weit, so bekannt. Das von Lisa Kuttner klug und gefühlvoll choreografierte Tanzstück, das auf den Mobbingerfahrungen eines behinderten Tänzers aus dem Ensemble beruht, ist jedoch weit davon entfernt, Klischees zu bedienen. Lieschen Müllers Ansichten von Mobbing als einer glasklaren Sache, bei der es auf der einen Seite Opfer und auf der anderen Seite Täter gibt, werden geschickt unterlaufen. Der Junge, der eben noch bitterlich weinte, weil ihm der Drache weggenommen wurde, macht plötzlich beim bösen Spiel der anderen mit. Er protestiert nicht. Er wehrt sich nicht. Er versucht nicht, irgendwie quitt zu werden mit den anderen. Er wird wie sie.

Als sie beginnen, mit Alma wie mit einem Fußball zu kicken, schmeißt er sich ins Spiel. Und kickt mit. Oh, wie schön, dabei zu sein! Ginge es nicht um den alles geliebten Drachen, wäre das nicht weiter schlimm. Wäre das so wie bei einer Kissenschlacht. Aber was hier passiert, geht über eine harmlose Kissenschlacht hinaus. Etwas, das über alles geliebt wurde, wird roh verraten. Da zahlt einer einen hohen Preis dafür, endlich Teil der Gruppe sein zu dürfen. Kann man das wiedergutmachen? Einen solchen Verrat?

In Ärgern ist doof! gelingt das. Und zwar mit einer plötzlich lebendig werdenden Drachin. Die geht zu dem Kind und stellt ihm eine einfache Frage: „Warum hast du das gemacht?“ Um kurz darauf mit der Antwort selbst eine Brücke zu bauen: „Wegen der anderen?“ Der Junge nickt zerknirscht.

Ärgern ist doof! richtet sich an Familien mit Kindern im Alter von sechs Jahren aufwärts. Viele der Kids werden das, was da auf der Bühne sehr ruhig und sehr poetisch, als Kontrast zu unserer rasanten Zeit, dargeboten wird, aus ihrem Kinderalltag kennen: Macht man nicht mit, wird man ganz schnell zum Spielverderber abgestempelt. Es braucht Mut, Selbstvertrauen und innere Stärke, um zu dem zu stehen, das man selbst für richtig hält. Was man für sich als wertvoll erachtet.

Eindringlich, aber ohne jede Doziererei

Diese Botschaft wird in dem inklusiven Tanzstück eindringlich und mit einprägsamen Bildern, aber ohne jede Doziererei und ohne platt instruktiv zu sein, vermittelt. Angesichts von so viel Mobbing, von so viel Ausgrenzung und so viel Gewalt in unserem Alltag stellt sich drängender denn je die Frage, wie das Böse aus der Welt verbannt werden könnte. Die Hellsten haben sich darüber schon den Kopf zerbrochen. In der kleinen Welt des „Augenblick“ kommt das Versöhnende schließlich in Gestalt eines großen, roten Drachen daher. Eben der bringt zur Einsicht: „Ärgern ist doof!“

Was dieser große, rote Drache, den der Würzburger Puppenspieler Thomas Glasmeyer kreiert hat und den er im Stück führt, im wahren Leben symbolisieren könnte, wofür er steht oder stehen könnte, bleibt spekulativ. Und die Antwort jedem selbst überlassen.
Weil sich die Produktion von Choreografin Lisa Kuttner, Puppenspieler Thomas Glasmeyer, Komponist Nikolaus Böll und Bühnentechniker Bernd Albrecht nicht zuletzt dadurch weit über das Banale erhebt, ist sie auch für Erwachsene spannend. Stimmungen, die wie aus heiterem Himmel umschlagen, heftige Auseinandersetzungen oder gar mit Gangstermethoden ausgetragener Terror im Job oder in der Familie, das kennen auch sie.

Letztlich inspiriert das Theater Augenblick mit seinem neuen Stück zum Nachdenken darüber, wie eine soziale Transformation gelingen könnte. Weg vom Gegeneinander. Weg davon, dass da einer die Führungsrolle an sich reißt und alle anderen zum Mittun zwingt. Hin zur Suche nach dem, was uns verbindet.

Die Themen werden in der Gruppe erarbeitet

Zu den stärksten Szenen des alles in allem starken Stückes zählt denn auch jene, in der ein Kind einem anderen, das an einer Mutprobe scheiterte und darum ausgelacht wurde, die Hand reicht. „Auch ich habe manchmal Angst!“, bekennt es. Und bricht damit das Eis. Mit einem Mal erkennt jedes Kind eigene Ängste. Und spricht sie aus.

Inhaltlich ist das, was das Ensemble des 1998 gegründeten Theater Augenblick der Mainfränkischen Werkstätten im Würzburger Kulturspeicher aufführt, keineswegs brandneu. Das „Theater Pfütze“ oder die Theaterpädagogen von „Mensch: Theater“ waren und sind mit entsprechenden Stücken auf Tour. Ärgern ist doof! sticht jedoch durch das spezielle, für das Theater Augenblick typische Verfahren des Theaterproduzierens heraus. Die Themen, mit denen sich das Ensemble auseinandersetzt, kommen nie von außen. Immer ist es jemand aus der Gruppe, der den Stein ins Rollen bringt. Der Produktionsprozess wird nie durch ein von vornherein festgelegtes Konzept oder einen starren Ablaufplan limitiert.

Besonders ist auch die eigens für das Stück komponierte Musik, die sich völlig danach richtet, was die acht Tänzer*innen mit und ohne Handicap unter der Leitung von Lisa Kuttner über viele Monate hinweg erarbeitet haben. Komponist Nikolaus Böll nahm an den Proben teil, setzte sich mit den Szenen intensiv auseinander und komponierte zu jeder choreografierten Passage die passende Musik. Das ist selten. Choreografen suchen normalerweise bekannte Musikstücke zu ihren Szenen heraus. Durch die Kooperation mit Nikolaus Böll erhält Ärgern ist doof! einfühlsame Musik aus einem Guss. (Pat Christ)
 

Kommentare (0)

Es sind noch keine Kommentare vorhanden!
Die Frage der Woche
Vergabeplattform
Vergabeplattform

Staatsanzeiger eServices
die Vergabeplattform für öffentliche
Ausschreibungen und Aufträge Ausschreiber Bewerber

Jahresbeilage 2023

Nächster Erscheinungstermin:
29. November 2024

Weitere Infos unter Tel. 089 / 29 01 42 54 /56
oder
per Mail an anzeigen@bsz.de

Download der aktuellen Ausgabe vom 24.11.2023 (PDF, 19 MB)

E-Paper
Unser Bayern

Die kunst- und kulturhistorische Beilage der Bayerischen Staatszeitung

Abo Anmeldung

Benutzername

Kennwort

Bei Problemen: Tel. 089 – 290142-59 und -69 oder vertrieb@bsz.de.

Abo Anmeldung

Benutzername

Kennwort

Bei Problemen: Tel. 089 – 290142-59 und -69 oder vertrieb@bsz.de.